Es lebte einmal ein Mann, der weder reich noch arm war, in einem Haus in der Stadt. Er war schon alt, aber nicht zu alt, um die Welt mit wachen Augen sehen zu können und regen Kontakt zu seinen Mitstädtern zu pflegen. Er war zwar nicht berühmt, aber man schätzte seine Freundschaft. Er war zwar nicht studiert, aber man fragte ihn häufig nach seiner Meinung.
Dieser Mann also stand wie jeden Morgen um sechs Uhr auf, wusch sich, kleidete sich in seinen bequemen Hausmantel und begab sich alsbald zu Tisch um sein Frühstück einzunehmen, welches ihm seine Haushälterin bereitet hatte. Und wie er so saß und seinen Stuten aß und durch seine Gläser in die Zeitung blickte, beschlich ihn ein seltsam fremdes Gefühl: Etwas war anders.
Zuerst glaubte er, dass er falsch gekleidet sei, dass an seinem gewohnten Aufzug etwas fehle. Prüfend nestelte er an seinem Morgenmantel. Nein, dies war nicht der Fall. Dann blickte er sich um. Zunächst wie zufällig, um nicht den Argwohn seiner Haushälterin auf sich zu ziehen. Nein, alles war an seinem Platz, so, wie er es gewohnt war und wie er es über die Jahre zu seiner Zufriedenheit eingerichtet hatte: Der Tisch, zwei Stühle, die Lampe, das Fenster und das Bild seines Großvaters an der Wand, das ihn als Förster in der Stube des Forsthauses sitzend zeigte, mit einem Glas Apfelwein in der Hand. Der goldbelegte Rahmen war der einzige schmückende Gegenstand im Raume - und dies war genau so, wie der Mann es sich wünschte.
Nein, es war nicht im Raum. War es seine Haushälterin? Wie üblich hielt sie sich zurück und sorgte im Stillen dafür, dass sein Haushalt intakt war, dass die Gäste - so denn welche kamen - bewirtet waren, dass er seine geregelten Mahlzeiten hatte und vor allem, dass das Haus in jenem Zustand blieb, der ihm behagte. Auch an ihr war nichts Ungewöhnliches festzustellen. Sie trug wie gewöhnlich ihr blondes Haar wie zu dicken Schnüren verzurrt und mit einem weißen Tuch gebändigt, darunter ihr rosiges Gesicht zumeist schweigsam in stillen Gedanken vertieft. Ihr schwarzes, schlichtes Kleid wogte ebenso durch die Stube, geziert von einer Schaumkrone aus weißer Schürze. Wie jeden Morgen.
Aus ebenso heiteren Himmel, wie dieses unbestimmte Gefühl der Andersartigkeit ihn beschlich, verschwand es dann wieder. Er beruhigte sich, trank seinen Kaffe, blickte durch das Fenster und sah wie an jedem Morgen zu, wie sich der Marktplatz in der noch jungen Sonne belebte. Heute hatte er einige Gänge zu erledigen - man wollte ihn in der Bank sehen, es waren Anlagen zu prüfen. Danach wollte er einen alten Kameraden besuchen, der nun - wie er selbst - allein zurückgelassen war.
Schließlich erhob er sich vom Tisch, schob den Stuhl heran und verließ wortlos den Raum. Die Haushälterin begann ebenso wortlos den Tisch abzuräumen, das Geschirr in die Küche zu tragen und die Krumen aufzulesen, als sie den Schrei aus dem Korridor vernahm.
***
Auf seinem Weg zu seiner Kammer war plötzlich dieses Gefühl zurückgekehrt. Etwas war anders. Es war nicht in der Stube, es war nicht an ihm, es war genau hier! Er wandte seinen Blick durch den Gang, sah die wenigen Pflanzen, die Wandleuchter und die kleinen Bilder seiner Verwandten auf der dunkelroten Tapete. Alles war wie gewohnt an seinem Platz, ausgewogen und angenehm - wenn nur dieses Gefühl nicht gewesen wäre! Es war hier noch viel deutlicher als zuvor, und wie er noch darüber sinnierte, was für ein Gefühl dies war, wurde ihm klar, dass es aus einer bestimmten Richtung auf ihn einzuwirken schien.
Er drehte sich schließlich in die nämliche Richtung und erblickte etwas, das er schon länger nicht mehr in dieser Deutlichkeit gesehen hatte: Er sah sich. Sein plötzlicher Ausruf der Verwunderung hatte seine Haushälterin herangerufen.
"Ist alles in Ordnung?"
"Jaja," sagte er hastig, seinen Blick nicht von sich selbst nehmend. "Alles in Ordnung. Gehen sie nur ihrer Arbeit nach."
Sie kehrte in die Stube zurück, er sammelte sich, wischte sich mit der Hand über die Augen, wie als ob er ein Tuch beiseite schieben wollte, das ihm die Sicht versperrte. Nachdem er tief eingeatmet und seinen Schreck überwunden hatte, hob er den Blick. Dort an der Wand neben dem Fenster hing etwas, das er nahezu vergessen hatte, da es in seinem täglichen Leben keine Rolle spielte. Es war ein venezianischer Spiegel, ein Erbstück seines Vaters, der einst einen florierenden Gewürzhandel besaß.
Der goldene Rahmen schimmerte leise im Halbdunkel, vom hereinbrechenden Sonnenlicht überstrahlt. Zwischen den Ornamenten und Schnitzereien, die an der obersten Stelle in die Darstellung zweier Masken mündeten, zeichnete sich seine Gestalt ab. Sein Morgenmantel war ordentlich und adrett und reichte hinunter bis auf seine Pantinen, die unter dem Rocksaum hervorlugten. Zu lang war er ihm geworden. Der schmale Gürtel war sorgfältig und zu gleichem Maß vor dem Bauche verknotet, so dass der Kragen leicht aufklaffte, um ihm nach der Morgentoilette die nötige Zirkulation der Luft zu ermöglichen, da er das Schwitzen nicht mochte. Oberhalb des Kragens stand sein weißes Tuch heraus und darüber, also genau an der Kante, an der sich schon die ersten Haare seines grauen Bartes abzuzeichnen schienen, nämlich im Winkel des klaffenden Kragens, sah er - Nichts.
Er schnaufte überrascht. Da war NICHTS. Das präzise und wohlgeordnete Bild seiner Statur, zudem noch fast symmetrisch zwischen den Holzornamenten im Glase abgebildet, mündete im Nichts. An der Stelle, da sein Kopf zu sehen sein sollte, war einfach Nichts im Spiegel zu sehen. Es war nicht etwa ein Lichtreflex, der ihn blendete; da war einfach Nichts.
Der Überraschung folgte Verwunderung. Der Spiegel musste beschädigt worden sein! Vielleicht hatte ein Dienstbote eine Parzelle gegen das Glas gestoßen, den Vorfall verschwiegen und nun fehlte ein Teil.
Er löste seine Starre, derer er erst jetzt gewahr wurde und trat näher an den Spiegel heran. Neugierig schritt auch sein Gegenüber auf ihn zu. Immer noch war zwar sein Körper zu sehen, aber das Gesicht war im Nichts verschwunden. Er prüfte das Glas an der Stelle zwischen den Masken: ebenmäßig, glatt und nicht entzwei. Er konnte sich nur nicht sehen. Das Glas musste also blind geworden sein! Sicherlich aufgrund mangelnder Pflege durch seine Haushälterin. Wütend befahl er sie aus der Küche zu sich.
"Was ist? Warum schreien sie so?"
"Was sehen sie dort, Fräulein?"
"Einen Spiegel"
"Natürlich einen Spiegel! Was denn sonst?"
"Aber, ich verstehe nicht - "
"Was sehen sie im Spiegel?"
"Das Bild ihrer Tante."
Der Mann war verdutzt, sah sich dann aber kurz um. Richtig, aus ihrer Position sah sie um ihn herum auf die Ahnengalerie an der Wand.
"Kommen sie her und stellen sie sich neben mich! Was sehen sie nun?"
"Ich sehe natürlich mich. Hören sie, ich verstehe nicht - "
"Beschreiben sie genau was sie sehen!"
"Na, ich sagte doch: ich sehe mich!"
"Und ich sagte, ’beschreiben sie GENAU, was sie sehen!’"
Sie seufzte. "Na schön. Ich sehe meinen Rock meine Schürze, meinen Kragen - oh! -"
"Was? Was?" Er war jetzt sehr aufgeregt und riss die Augen auf. "Was sehen sie noch?"
"Oh, da ist ja ein Fleck auf meinem Kragen!" Sie wandte sich vom Spiegel ab und wischte mit dem Staubtuch, das sie aus ihrer Schürze hervorgebracht hatte, über ihre linke Kragenspitze.
"Um Himmelswillen! Blicken sie in den Spiegel!" Jetzt schrie er, wie sie ihn noch nie hatte schreien hören.
"Was wollen sie hören? Ich sehe halt mich: meinen Hals meine Haare - "
"Und? Und?"
"Na was - meine Augen, meine Nase, meinen Mund - aber was ist denn mit ihnen nur los?"
Er war jetzt sehr blass geworden. Der Schweiß war ihm auf die Stirne getreten und er musste sich an die Brust fassen, wie als ob er seinem Herzen Beistand leisten müsse, ohne den es aufhören wollte zu schlagen. Er taumelte etwas zur Seite und rang nach Fassung.
"Sind sie sich sicher?" fragte er schließlich leise.
"Aber ja doch. Was sonst sollte ich sehen? Ich sehe mich und - Moment einmal - ich sehe - "
"Was nur, was?"
"Naja, jetzt wo sie da so stehen, jetzt sehe ich sie!"
"Nein!"
"Aber ja doch!"
"Unmöglich!"
"Wenn ich ihnen es doch sage! Sie stehen ja genau hinter mir; ich sehe sie im Spiegel. Da! Grad fassen sie sich an den Mund. Aber - wieso sind sie denn so sonderbar erstaunt?"
Der Mann konnte immer noch nicht recht fassen, was dort geschah. Sie hatte recht, sie konnte ihn sehen, das hatte sie gerade bewiesen. Und das Absonderliche war: Er konnte SIE auch sehen. Er sah im goldenen Rahmen ihrer beider Abbild hoch bis zu den Masken ragen, nahezu gleich groß, wie ein Familienportrait, einem Bilde gleich, das zum Anlass einer Hochzeit einem stolzen Brautpaare zu Ehren angefertigt worden war. Nur war dies Gemälde auf monströse Weise unfertig - der Bräutigam hatte kein Gesicht.
Da kam ihm eine Idee. Er nahm sie bei den Schultern und schritt mit ihr auf den Spiegel zu. Verwundert trat sie an das Glas heran bis sie die Distanz innehatten, dass ihr Kopf genau dort im Spiegel zu sehen war, wo zuvor seiner war - genau zwischen den beiden Masken. Zu seiner Verwunderung verschwand ihr Gesicht nicht! Ebenso wie vorher strahlte es rosig vor dem Dunkel seines Morgenmantels.
"Was sehen sie nun?"
"Unverändert. Ich sehe mich selbst, nur ein bißchen näher. Was soll dies alles?"
Er atmete tief und fest ein, schloss die Augen und sammelte sich. "Nichts. Nur ein naturwissenschaftliches Experiment. Nichts weiter. Gehen sie nun zurück an ihre Arbeit. Ich danke ihnen."
Zögernd löste sie sich aus dem Gemälde und ging durch den Korridor in die Stube und schließlich in die Küche zurück, wobei sie sich mehrmals umsah, doch der Mann stand regungslos zwischen den Wänden.
***
Immer noch von der Absurdität des Ereignisses betäubt stand er da und starrte in das Nichts seines Spiegelbildes. Langsam perlte die Lähmung wie ein heißes Prickeln von seinem Körper ab; zuerst entspannte die Kopfhaut und dann allmählich der Leib und mit ihm die schließlich die Sinne. Das Gefühl der Hilflosigkeit und Fassungslosigkeit machte nun der aufkeimenden Wut Platz: Was sollte ein solch gräßliches Ding in seinem Haus? Was hatte sich sein Vater nur gedacht, daß er ihm ein derart absonderliches Gerät hinterließ - er, der immer auf Perfektion erpicht war und auch ansonsten kein gutes Haar an seinem Sohne ließ.
Fest entschlossen den unerhörten Defekt - wie auch immer - zu beseitigen trat er ganz nah an das Glas. Er sah immer noch Nichts. Vorsichtig hauchte er den Spiegel an der blinden Stelle an und wartete, dass sich der Atem wieder löste, als hoffte er, ein Vorhang zöge sich beiseite um endlich das lang ersehnte Bild zu enthüllen. Der graue Fleck, der zu allem Überfluss deutlich sichtbar war, schrumpfte und gab Stück für Stück wieder das mittlerweile gewohnte Nichts frei.
Der Mann hauchte abermals und begab sich nun daran, den Spiegel mit dem Ärmel seines Morgenmantels kreisend zu reiben. Wieder Nichts. Er hauchte erneut, rieb deutlich härter. Nichts. Auch drei neue Versuche brachten keine Veränderung. Nichts. Das Nichts änderte sich nicht.
Mit seiner sich wild steigernden Wut eilte er in die Küche. Seine Haushälterin starrte ihn erschrocken an: "Was ist denn nur in sie gefahren? Sie machen mir Angst!"
"Geben sie einen Lappen und etwas Putzwasser. Am besten eine Lauge oder dergleichen."
"Aber was wollen sie denn damit? Das kann ich doch - "
"Geben sie es mir!" Der Mann klang jetzt sehr finster und entschlossen. "Ich will damit den Spiegel im Korridor putzen."
"Aber den hab ich doch grad gestern -"
"Haben sie nicht gehört?"
Zögernd füllte sie einen Eimer, nahm etwas Kernseife aus dem Putzschrank und hielt dem Mann fragend Henkel und Lappen hin. Er nahm beides wortlos und ging festen Schrittes in den Korridor. Wieder trat er an den Spiegel. Diesmal tauchte er den Lappen in das Wasser und wischte über das Nichts. Abermals kein Resultat. Auch erneutes Reiben, mal mit mehr, mal mit weniger Wasser brachte nicht das erwünschte Ergebnis. Er war wie verhext. Langsam begann er sich mit kreisenden Bewegungen gegen das Nichts zur Wehr zu setzen.
***
"Sie müssen nun wirklich einmal etwas zu sich nehmen!" sagte sie am Mittag zu ihm. "Ich habe eine kräftige Brühe bereitet, die hilft immer."
"Lassen sie mich!" Er schrubbte wütend und versessen auf dem Glas herum, dass man Sorgen hatte, es wollte zerspringen.
***
"Ich weiß auch nicht, was mit ihm ist. Er sagt er sei indisponiert und will niemanden zu sich lassen. Er wird sich bald bei ihnen melden," sagte sie am Nachmittag dem Vertreter der Bank. Der zog seinen Hut, wünschte eine gute Besserung und dass der Mann sich recht bald melde. Die Geschäfte seien wichtig und dürften nicht Verzug geraten. Überhaupt wäre diese Grille gar untypisch und in ihrem gesamten Geschäftsverhältnis bislang nicht aufgetreten. Als sie die Tür schloss, war ihr dann doch ein wenig seltsam zumute.
***
Am Abend trat sie wieder zu ihm in den Korridor. Er rieb immer noch die Stelle zwischen den Masken. Immer und immer wieder drehte sich seine Faust um diese eine Stelle, den Lappen im Krampf umschlossen. Warum tat er dies bloß? Da war doch Nichts!
"Sie müssen etwas essen! Sie sind doch ganz geschwächt! Lassen sie doch den dummen Spiegel. Er ist doch sauber! Was wischen sie ihn noch?"
Er war sichtlich müde und von der geistigen und körperlichen Pein angestrengt. Als er das Tuch sinken ließ, konnte man sehen, dass er inzwischen Scheuersand geholt hatte, um den Spiegel zu reinigen.
"Was wollen sie denn damit?" Sie zeigte auf den Lappen. "Wollen sie den Spiegel zerkratzen?"
"Es hat keinen Sinn", sagte er. "Sehen sie doch!"
Und tatsächlich; der Spiegel war gänzlich unversehrt. Verwundert blickte sie auf das Glas und berührte die Oberfläche mit den Fingerspitzen. Kein Kratzer. Nichts. Sie drehte sich zu ihm um.
Der Mann trat erschöpft an die gegenüberliegende Korridorwand, lehnte sich mit dem Rücken an
und sackte langsam zu Boden, dabei unablässig auf den Spiegel starrend.
"Immer noch Nichts. Warum nur, warum?"
"Wollen sie mir nicht endlich sagen, was mit ihnen los ist?"
"Nein", er lächelte kurz müde in Richtung des Spiegels. "Es ist Nichts. Gehen sie bitte."
***
Zur Nacht ging sie wieder zu ihm.
"Brauchen sie mich noch? Wenn sie nämlich noch immer nichts zu sich nehmen wollen, würde ich mich nun gerne zurückziehen."
"Ja." Seine Stimme drang von weit her zu ihr herüber. "Gehen sie nur zu Bett." Er hielt seinen Blick fest auf den Spiegel gerichtet.
"Ich mache mir Sorgen", fügte sie im Weggehen leise hinzu.
"Ist schon recht. Gehen sie ruhig. Morgen ist ein neuer Tag."
***
Als sie ihn am nächsten Morgen fand, lag sein Körper in den Scherben.