Klaxon Bell

Alles gut.

Wieso ist das natürliche Habitat der Erkenntnis eigentlich immer die Supermarktkasse? Kommt hier zusammen, was sonst nur in konzentrischen Bahnen aneinander vorbeieiert? Ganz nah an der Wahrheit, nämlich in Gelsenkirchen, entstehen dann Risse im Äther, die uns innehalten lassen.
Nebenan klirrt es. Ein Viertelliter billiger Weisswein schwappt auf das Band, der Mief zieht durch die Warteschlangen. Der Senior, dem das Missgeschick passiert ist, schaut hilflos seine Frau an, die sich wackelig am Wagen stützt, blickt dann unsicher ins Kundenrund und auf die Kassiererin. "Das ist mir ja noch nie passiert", flüstert er unsicher.
Vor mir beharrt eine ebenso alte aber dafür forsche, kniepige Schachtel mit Münzschlitzaugen auf das Sonderangebot, das sie ganz bestimmt in den Wagen geladen hat, was die Registrierkasse aber nicht registrieren will. So ginge das aber nicht, schnarrt sie, wenn das ein Angebot sei, dann müsse es auch zu dem Preis erhältlich sein und nicht zu dem, was die Kasse da anzeige.
Ihr Mann hingegen beobachtet genau wie ich den Herrn nebenan, der immer noch die Flaschenruine wie einen umgekehrten Strauß Blumen festhält und hilflos zusieht, wie zwei Kassiererinnen die Bescherung vom Band wischen, während sich die Schlange staut.
"Selbstverständlich werde ich das bezahlen", startet er einen Selbstrettungsversuch, worauf seine ursprüngliche Kassiererin entgegnet: "Nein, alles gut."
Zeitgleich höre ich auch vor mir: "Ach, das war gar nicht das Angebot. Sehen Sie? Hier ist es doch, eine Zeile tiefer. Alles gut."
Alles gut. So heißt die Modeaffirmation, dass etwas nicht so schlimm ist, doch noch geklappt hat, dass man zufrieden mit sich, der Welt und den Mitmenschen ist.
Ständig ist alles gut.
Was ist eigentlich aus "Machen Sie sich keine Sorgen", "Das macht nichts", "Kann ja mal passieren", "Nicht schlimm", "Kein Ding", "Null Problemo", "Alles in Butter", "im Lack", "knorke" oder meinetwegen auch "basst scho" geworden?
Nein, alles ist gut. Immer. Das hat uns mal einer vorgeplappert. Das sagt man jetzt so.
Man kommt zu spät ins Restaurant. Unsicher wird der Kellner gefragt, ob der Platz schon vergeben sei. "Nein", heißt es. "Setzen Sie sich. Alles gut."
Stimmt das eigentlich? Ist alles gut?
Nein, ist es nicht! Am Nebentisch ist Ehekrach, um die Ecke wird ein Kind geschlagen, am Bahnhof muss sich jemand verkaufen, es wird länderweise gestorben und Hass wird mal wieder zum Machtvehikel erhoben.
Und nebenan ist auch nicht alles gut. "Das ist mir ja noch nie passiert", sagt er und bemerkt tief in sich einen weiteren Schritt in seinem unumkehrbaren Verfall.
Und vor mir ist auch nicht alles gut, denn die alte Schachtel ist eine furchtbar arrogante Kuh, die ihrem Mann sicherlich den restlichen Tag die Geschichte mit dem Sonderangebot (aber nicht die von dem Mann nebenan) immer und immer wieder vorkauen wird.
Und draußen ist nicht alles gut, denn es ist kalt und die Grippewelle rollt, Regierungen machen ihre eigene Findung zur Farce und ein lobbyverseuchter Staat zieht als einzig denkbare Konsequenz aus Gewalt die Gegengewalt.
Und dann zahle ich, schiebe den Wagen zum Ausgang und komme am Cafe vorbei. Hier haben ein gutes Dutzend betagte Damen und Herren mit frischen Gesichtern und properen Dauerwellen einfach die Tische zusammengeschoben, sitzen bei Kaffe und Kuchen und lachen. Lachen lauter als das Scherbenklirren, lauter als das Motzen, lauter als das Erfrieren, lauter als die Schiebereien und lauter als Schüsse auf Schulhöfen.

Und er setzt sich dazu.

Alles gut.